Die nächste Episode von „Storie Alfa Romeo“ spielt in der Zeit des italienischen Wirtschaftswunders. Ab den 1950er Jahren setzte die Polizei auf verschiedene Modelle von Alfa Romeo bei der Verbrecherjagd, noch heute findet sich die Alfa Romeo Giulia im Fuhrpark der Gesetzeshüter. In dieser Ära entwickelte sich Alfa Romeo zum Großserienhersteller, bewahrte aber gleichzeitig den Charme der exklusiven Manufaktur. Die Verkaufszahlen stiegen deutlich. Mit mehr als 177.000 gebauten Exemplaren avancierte die Alfa Romeo Giulietta ab 1954 zum Liebling Italiens. Mit einer Stückzahl von sogar mehr als 570.000 wurde die 1962 vorgestellte Alfa Romeo Giulia eine italienische Ikone.
Im Italien der Nachkriegsära wurden die Autos von Alfa Romeo zur Legende. Die Fahrzeuge aus Portello bewiesen, dass sie sowohl auf der Rennstrecke als auch auf der Straße die Schnellsten waren. Ihre technischen Eigenschaften und ihr Image erregten auch das Interesse der „Polizia di Stato“, der italienischen Bundespolizei.
Die Verbindung zwischen Alfa Romeo und den verschiedenen Polizeikräften ist ein interessantes Kapitel in der Geschichte der Republik Italien. Ab den 1950er Jahren kamen unterschiedliche Modelle der Marke als offizielle Fahrzeuge bei den Gesetzeshütern zum Einsatz. Wegen ihrer Schnelligkeit waren sie als „volanti“ (die Fliegenden) bekannt und erhielten sogar Spitznamen. Die Alfa Romeo in Diensten der Staatspolizei wurden als „pantera“ (Panther) bezeichnet, Carabinieri und Militärpolizei setzten auf „gazzelle“ (Gazellen). Zwei Metaphern, die Kraft und Beweglichkeit der sportlichen Limousinen von Alfa Romeo unterstrichen.
Der allererste „Panther“ war ein 1952 gebauter Alfa Romeo 1900, dessen aggressive Silhouette den Spitznamen inspirierte. Die erste „Gazelle“, eine Alfa Romeo Giulietta, wurde einige Jahre später in Dienst gestellt. Das berühmteste Polizeiauto war die Alfa Romeo Giulia Super. Im Laufe der Jahrzehnte bestellte die Polizei praktisch alle Modelle von Alfa Romeo, vom Geländewagen 1900M „Matta“ bis zu Alfasud, 75, Alfetta und 156. Heute fahren viele Gesetzeshüter die aktuelle Alfa Romeo Giulia.
„Alfa Romeo ist ein Lebensstil“
Parallel zu den wachsenden Beziehungen zwischen Alfa Romeo und der Polizei entwickelte sich die Marke weiter. Ein wichtiger Protagonist in dieser Zeit war Orazio Satta Puliga (1910–1974). Geboren mit sardischer Abstammung in Turin, kam der studierte Ingenieur 1938 zu Alfa Romeo. 1946 wurde er Leiter der Entwicklungsabteilung, 1951 dann Direktor von Alfa Romeo. Satta Puliga bekannte sich als leidenschaftlicher Fan zur Marke. Von ihm stammt der Satz: „Es gibt viele Automarken, Alfa Romeo hebt sich von allen ab. Es ist eine Art Leiden, die Begeisterung für ein Transportmittel. Alfa Romeo ist ein Lebensstil, eine besondere Art, ein Kraftfahrzeug wahrzunehmen.“
Als Designchef und Direktor hatte Satta Puliga in der Nachkriegszeit eine schwere Aufgabe vor sich. Er musste nicht nur ein komplett zerstörtes Unternehmen wiederaufbauen. Sein Job war es außerdem, eine bis dahin nach den Regeln des Handwerks arbeitende Manufaktur in ein modernes Industrieunternehmen umzubauen. Satta Puliga folgte hierbei dem von Vorgänger Ugo Gobbato eingeschlagenen Weg.
Als Satta Puliga 1938 in die Designabteilung von Alfa Romeo eintrat, produzierte die Firma jedes einzelne mechanische Teil im Werk Portello nach strengen Kriterien exquisiter Handwerkskunst selbst. Mehr als ein Jahrzehnt später rationalisierte Satta Puliga den Fertigungsprozess, lagerte die Produktion von einzelnen Komponenten aus und senkte die Kosten. Gleichzeitig reifte der Plan für ein neues Modell, das nach den effizientesten technischen und organisatorischen Methoden in Großserie gebaut werden sollte.
Alfa Romeo 1900 – der erste „Panther“
Der von Satta Puliga designte Alfa Romeo 1900 aus dem Jahr 1950 war das erste Modell der Marke mit selbsttragender Karosserie und Linkslenkung. Die für Alfa Romeo traditionellen Sechs- und Achtzylindermotoren waren keine Option mehr. Stattdessen erhielt der Alfa Romeo 1900 einen neu entwickelten Vierzylinder-Reihenmotor mit Zylinderkopf aus Aluminium und zwei über Kette angetriebene Nockenwellen. Für die Gemischaufbereitung sorgte ein Einzelvergaser, der hohe Leistung bot und eine niedrige Steuereinstufung erreichte. In seiner Urversion hatte der Alfa Romeo 1900 eine Leistung von 59 kW (80 PS). Die neue Limousine war agil und schnell, wie man es von einem Alfa Romeo erwartete, aber auch sehr einfach zu fahren. Der Alfa Romeo 1900 hatte das Zeug, einen größeren Kundenkreis anzusprechen.
Der Alfa Romeo 1900 war auch das erste Modell der Marke, das am Fließband hergestellt wurde. Für die einstige Manufaktur eine wahre Revolution. Die Gesamtfertigungszeit pro Fahrzeug reduzierte sich von 240 auf nur 100 Stunden. Diese neue Strategie führte zu einem beispiellosen Verkaufserfolg. Vom Modell 1900 verkaufte Alfa Romeo schließlich mehr Exemplare als von allen zuvor angebotenen Baureihen zusammen.
Dieser wirtschaftliche Erfolg war auch auf ein sorgfältiges Produktmanagement zurückzuführen. Auf das Urmodell folgten mehrere Hochleistungsvarianten. Als TI, Sprint, Super Sprint sowie Super feierte der Alfa Romeo 1900 sogar internationale Erfolge im Motorsport. Diese führte zum Werbeslogan „Das Familienauto, das Rennen gewinnt“.
Parallel zur Fließbandproduktion der Baureihe 1900 arbeitete Alfa Romeo weiter mit den bewährten Karosserieschmieden zusammen. So entstanden auf der Plattform des Alfa Romeo 1900 zwischen 1953 und 1955 drei Aerodynamik-Konzeptfahrzeuge mit dem Kürzel BAT (Berlinetta Aerodinamica Tecnica). BAT 5, BAT 7 und BAT 9 waren frühe Meisterwerke von Franco Scaglione, zu dieser Zeit in den Diensten der Carrozzeria Bertone.
Der Motor des Tipo 1900 wurde außerdem im allradangetriebenen Geländewagen Alfa Romeo 1900 M verwendet, besser bekannt als „Matta“ (Der Verrückte). Als Spähwagen AR51 (Autovettura di Recognizione) kam das Modell bei den italienischen Streitkräften zum Einsatz.
Ein Mailänder mit Begeisterung für Kultur und Boxsport
Hatte Alfa Romeo mit dem Modell 1900 den Weg in Richtung Serienproduktion eingeschlagen, vollendete das Modell Giulietta diese Transformation. Die treibende Kraft hinter diesem Kapitel war Giuseppe Luraghi (1905–1991).
Der gebürtige Mailänder hatte an der privaten Wirtschaftsuniversität Luigi Bocconi studiert und dort auch die Kunst des Boxens erlernt. Als Luraghi bei Alfa Romeo begann, eilte ihm bereits der Ruf eines hervorragenden Managers voraus. Nach mehreren Jahren bei Pirelli war er von 1951 bis 1958 General Manager bei der Staatsholding Finmeccanica, die unter anderem Alfa Romeo kontrollierte. Nach einer kurzen Zeit bei Lanerossi kehrte Luraghi 1960 als Präsident zu Alfa Romeo zurück, eine Position, die er bis 1974 innehatte.
Als begeisterter Autor, Journalist und Verleger förderte Luraghi besonders kulturelle Initiativen innerhalb des Unternehmens. 1953 beauftragte er beispielsweise Leonardo Sinisgalli, aufgrund seiner doppelten Begabung bekannt als „Dichteringenieur“ bekannt, ein Magazin aus der Taufe zu heben, das einen Dialog zwischen humanistischer Kultur, technischem Wissen und Kunst herstellen sollte. Das Ergebnis war die Zeitschrift „La Civilità delle Macchine“ (Die Zivilisation der Maschinen), zu deren Autoren die italienischen Schriftsteller Giuseppe Ungaretti und Carlo Emilio Gadda gehörten.
Start ins Wirtschaftswunder
Luraghi erkannte das Potenzial von Alfa Romeo. Die Marke hatte eine außergewöhnliche Präsenz in der Öffentlichkeit, ihre sportlichen Erfolge begeisterten Millionen von Menschen und brachten sie zum Träumen. Für Luraghi war die Zeit reif, dieses Image in Verkäufe umzusetzen. Das sogenannte Wirtschaftswunder stand vor der Tür, und das Auto hatte sich zum begehrenswertesten Konsumgut entwickelt. Luraghi wollte den Besitz eines Alfa Romeo zum Kennzeichen derer machen, die es im Leben zu etwas gebracht hatten. Dazu musste er zunächst die Produktion im Unternehmen revolutionieren und holte die Ingenieure Rudolf Hruska und Francesco Quaroni ins Team.
Vom Luxusprodukt zum Objekt der Begierde für ein breites Publikum – Alfa Romeo hatte nun alle seine Ressourcen in Design und Produktion in diese neue Richtung gelenkt. Und die Giulietta sollte das Modell werden, das die Wende in der Geschichte von Alfa Romeo einläuten würde. Ein Auto, das den Absatz steigern und gleichzeitig die technische Tradition und den Sportsgeist der Marke bestätigen sollte.
Alfa Romeo Giulietta – die erste „Gazelle“
Die Alfa Romeo Giulietta erneuerte die Verbindung zu den italienischen Polizeikräften. Die Carabinieri vertrauten auf die ab 1955 gebaute Limousinenvariante, die erste „Gazelle“. In der Sprache der Polizisten repräsentierte dieses Tier den Streifenwagenfahrer: schnell, agil und tapfer. Diese Eigenschaften musste auch sein Auto haben. Alfa Romeo lieferte die Giulietta für den Patrouillendienst ab Werk mit Sprechfunkgerät aus.
Das Modell Giulietta war kürzer, schmaler und leichter als der Tipo 1900. Mit der Giulietta deckte Alfa Romeo erneut ein neues Segment ab und erreichte ein jüngeres Publikum. Die viertürige Limousine bot ein modernes Design, hohen Komfort im Innenraum sowie sportliches Fahrverhalten, gute Beschleunigung und hohe Geschwindigkeit. Ihr nahezu komplett aus Aluminium gefertigter 1,3-Liter-Vierzylinder leistete 59 kW (65 PS) und ermöglichte eine Höchstgeschwindigkeit von 165 km/h.
Auf der Motorshow Turin 1954 präsentierte Alfa Romeo zunächst die Coupé-Version Giulietta Sprint. Bertone hatte ein flaches, agiles und kompaktes Auto entworfen, das zweifellos das Zeug zum Klassiker hatte. Das Coupé basierte auf der Mechanik der ein Jahr später gestarteten Limousine. Alfa Romeo war damit einer der Vorreiter der sogenannten Plattform-Strategie. Eine ähnliche Vorgehensweise gilt für die aktuelle Alfa Romeo Giulia mit dem Topmodell Quadrifoglio.
Die Alfa Romeo Giulietta wurde ein voller Erfolg und so begehrt, dass sie den Spitznamen „Liebling Italiens“ bekam. Insgesamt wurden mehr als 177.000 Einheiten produziert – wieder ein Rekord für Alfa Romeo.
Alfa Romeo Giulia – die nächste Revolution
Nur ein noch revolutionäreres Fahrzeug konnte die Giulietta von der Spitze der Alfa Romeo internen Bestsellerliste verdrängen. Satta Puliga wusste das nur zu genau. Sein Team mit den Ingenieuren Giuseppe Busso, Ivo Colucci, Livio Nicolis und Giuseppe Scarnati sowie Testfahrer Consalvo Sanesi machte sich an die Arbeit. Es entwickelte ein Fahrzeug, das seiner Zeit definitiv weit voraus war.
Die Alfa Romeo Giulia war eines der ersten Fahrzeuge weltweit mit verformbarer Struktur. Die vorderen und hinteren Bereiche der Karosserie sollten bei einem Unfall Energie aufnehmen. Der Fahrgastraum war dagegen extrem steif ausgeführt, um die Insassen optimal zu schützen. Alfa Romeo nahm damit Sicherheitslösungen vorweg, die erst einige Zeit später zum Standard wurden.
Der Motor der Alfa Romeo Giulia mit 1,6 Litern Hubraum und zwei obenliegenden Nockenwellen war eine Weiterentwicklung des 1,3-Liter-Vierzylinders der Giulietta und zeichnete sich durch zwecks besserer Kühlung natriumgefüllte Auslassventile aus. Auch das Design der Giulia war revolutionär: kompakt, mit gefälligen Proportionen und einzigartigem Stil. Die niedrige Front und das steil abfallende Heck entsprachen neuesten Erkenntnissen der Aerodynamik. Die Werbung beschrieb die Alfa Romeo Giulia als „vom Wind entworfen“. Tatsächlich war der Luftwiderstand dank der innovativen Entwicklungsarbeit im Windkanal für seine Zeit außergewöhnlich niedrig: Der cw-Wert betrug nur 0,34.
Die Alfa Romeo Giulia wurde eine italienische Ikone und ein überwältigender Verkaufserfolg. Die sportliche Limousine fand mehr als 570.000 Käufer, mehr als das Dreifache der Giulietta.